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May nach Unterhauswahl Die eiernde Lady

Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat hoch gepokert - und fast alles verloren. Nach einer denkwürdigen Nacht ist das Land politisch gelähmt. Und es ist völlig unklar, wie es weitergeht.

Selbst in dieser für sie nicht enden wollenden Nacht konnte es Theresa May nicht lassen. Fahrig und mit zitternder Stimme trat die 60-Jährige am frühen Freitagmorgen vor eine Schar von Anhängern in Maidenhead, ihrem Wahlkreis vor den Toren Londons. "Das Land braucht eine Phase der Stabilität", rief die britische Premierministerin. Und: "Es ist unsere Aufgabe, für diese Stabilität zu sorgen." Es war, als wolle sie sich zum Abschluss noch einmal selbst parodieren, hatte ihr monoton wiederholter Slogan "stark und stabil" zuletzt doch nur noch für Spott gesorgt.

Das endgültige Wahlergebnis war in diesen Minuten noch weit entfernt, klar war nur: Stabil ist fürs Erste gar nichts mehr. Am wenigsten der Job von Theresa May.

In einigen wenigen Umfragen vor der Wahl hatte es sich abgezeichnet, aber ernsthaft hatte fast niemand damit gerechnet, dass Mays konservative Partei ihre absolute Mehrheit wirklich verlieren könnte. Dann ploppte um Punkt 23 Uhr die erste Prognose auf die britischen Bildschirme und versetzte das Land in einen kollektiven Taumel: Unmittelbar vor den Brexit-Verhandlungen mit den anderen 27 EU-Mitgliedern, so insinuierten es die Zahlen, haben die britischen Wähler die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen geschaffen: Einen Patt in Westminster, das Land ist womöglich politisch gelähmt.

Noch vor sieben Wochen, als May - offenbar berauscht von traumhaften Umfragewerten - überraschend Neuwahlen angekündigt hatte, sah alles nach einem Erdrutschsieg für ihre Tories aus. Die heillos zerstrittene und an sich selbst zweifelnde Labour-Partei schien auf ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 40 Jahren zuzusteuern, die rechtspopulistische Ukip war klinisch tot, die Liberaldemokraten marginalisiert. Deren Ex-Chef Nick Clegg sah Großbritannien bereits auf dem Weg in einen "Ein-Parteien-Staat".

Genau das wollte May, als sie ohne Not die dritte nationale Wahl in drei Jahren ansteuerte, nach dem Urnengang 2015 und dem Brexit-Referendum 2016. Ein Sieg mit 80, vielleicht sogar 100 Sitzen Vorsprung im Parlament, so ihr dreifaches Kalkül, werde den ohnehin nur noch zaghaften Widerstand im Land gegen den beschlossenen EU-Austritt endgültig brechen. In ihrer eigenen Partei wäre keine der rivalisierenden Fraktionen mehr stark genug gewesen, sie während der Brexit-Verhandlungen zu erpressen. Und in Brüssel hätte niemand mehr daran zweifeln können, dass May für die übergroße Mehrheit der Briten spricht.

"May ist beschädigt"

Nun sind die Konservativen zwar stärkste Kraft geworden. Aber alleine können sie nicht mehr regieren, im neuen Unterhaus sind sie auf die Hilfe der nordirischen Unionisten angewiesen. Für die Tories ist es ein Debakel - für May ist es desaströs. Noch in der Nacht forderten Labour-Chef Jeremy Corbyn und andere ihren Rücktritt. Der von ihr geschasste Ex-Schatzkanzler George Osborne nannte Mays Resultat "katastrophal". Ihrem Außenminister Boris Johnson, Mays gefährlichstem Rivalen innerhalb der Regierung, kam kein Wort der Loyalität über die Lippen. Stattdessen empfahl er seinen eigenen Leuten, "die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen".

"May ist beschädigt", sagt der Londoner Politikwissenschaftler Tim Bale. Sie habe nicht verstanden, dass man "zwar eine Regierung prosaisch führen kann, aber im Wahlkampf Poesie braucht". Labour-Chef Corbyn habe mit seiner Erzählung von einem gerechteren Land, in dem Arbeiter nicht zugunsten von Managern und Junge nicht zugunsten von Alten geschröpft werden, zwar wie der Weihnachtsmann geklungen - "aber hey, wer mag nicht Weihnachten?"

May, sagt Bale, müsste nun eigentlich gehen. Was sie jedoch retten könnte, sei die Tatsache, dass bereits am 19. Juni die Brexit-Verhandlungen beginnen sollen: "Kann man kurz davor wirklich den Premierminister austauschen?" Womöglich wird May also noch eine Bewährungsprobe erhalten. Dabei ist die Aufgabe, vor der sie in Brüssel steht, noch gewaltiger, als eine Wahl gewinnen zu müssen.

Die Fronten zwischen Großbritannien und den restlichen 27 EU-Mitgliedern haben sich - auch wegen Mays unversöhnlicher Rhetorik - zuletzt eher verhärtet. "Lasst uns aus dem Brexit einen Erfolg machen", hat die Premierministerin gesagt. "Der Brexit kann kein Erfolg werden", hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geantwortet. Es ist, als hätten zwei Schachspieler noch vor dem ersten Zug beschlossen, dass es diesmal kein Remis geben kann. So steht die Gefahr im Raum, dass Großbritannien und die EU ohne jede Vereinbarung voneinander scheiden - ein Ergebnis, das für die EU bittere, für Großbritannien aber womöglich verheerende Folgen haben würde.

Die Aufgaben für Großbritannien sind gewaltig

Allmählich, mit rund einem Jahr Verspätung, zeichnen sich die wirtschaftlichen Folgen des Brexit-Beschlusses für das Land ab. JP Morgan hat angekündigt, 1000 Banker aus London abzuziehen, die Deutsche Bank 4000 - fast die Hälfte ihrer britischen Belegschaft. Andere wollen nachziehen. Kürzlich warnte die Recruitment & Employment Confederation, in 60 Berufen, darunter Ingenieure und IT-Experten, sei die Zahl der Bewerber für offene Stellen im freien Fall. Eine Folge von Mays Ankündigung, die Zahl der Einwanderer auf "unter 100.000" im Jahr zu drücken.

Vor allem daran wird die neue Regierung von den Brexiteers zu Hause gemessen werden. Dabei ist es ein nahezu unmögliches Unterfangen. Zuletzt lag die Netto-Einwanderung bei rund 250.000 Menschen, aber nur knapp die Hälfte davon stammte aus der EU. Selbst wenn es der Regierung gelänge, keinen einzigen EU-Bürger mehr ins Land zu lassen, hätte sie ihr Ziel immer noch deutlich verfehlt.

Die Aufgaben sind also gewaltig: Die Regierung muss den Scheidungsprozess mit der EU organisieren, für den es kein historisches Vorbild gibt; sie muss die Fliehkräfte im eigenen Land bändigen und insbesondere mit Blick auf Schottland und Nordirland dafür sorgen, dass das Vereinigte Königreich ein vereinigtes Königreich bleibt; sie muss nahezu unhaltbare Versprechen einhalten, die sie selbst gegeben hat, und darauf achten, dabei nicht die heimische Wirtschaft zu torpedieren.

Es ist eine Situation, in der das Land tatsächlich eine starke und stabile Anführerin gebrauchen kann. Theresa May sah für eine Weile so aus. Noch vor zwei Wochen war sie von britischen Medien mit der "eisernen Lady" Margaret Thatcher verglichen worden.

Seit Freitagfrüh ist sie nur noch eine eiernde Lady.

Zusammenfassung: Mit der vorgezogenen Unterhauswahl wollte Theresa May ihre Position in ihrer konservativen Partei und auch in den Brexit-Verhandlungen mit der EU stärken. Doch im Wahlkampf verspielte die Premierministerin ihre starke Position, und bei der Wahl verpassten ihre Tories sogar die absolute Mehrheit, sie sind nun auf die Hilfe der nordirischen Unionisten angewiesen. Der Patt im Unterhaus dürfte Großbritannien nun lähmen. May selbst ist schwer angeschlagen, Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte bereits ihren Rücktritt.