Der Heros und sein Herold: Günter Netzer wird 75 Jahre alt

Nur an zwei Turnieren hat Günter Netzer mit Deutschland gespielt, nicht mehr als 37 Länderspiele kamen zusammen. Trotzdem faszinierte Netzer als Fussballer und als Erscheinung – erst recht waren ihm die Intellektuellen verfallen.

Stefan Osterhaus
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Günter Netzer: Fussballer mit internationaler Karriere und Symbol des Zeitgeistes der siebziger Jahre. (Bild: Hulton Archive / Getty Images)

Günter Netzer: Fussballer mit internationaler Karriere und Symbol des Zeitgeistes der siebziger Jahre. (Bild: Hulton Archive / Getty Images)

Still ist es nicht geworden um den Mann, der im Ruf steht, ein Mythos zu sein. Zwar will Günter Netzer seinen 75. Geburtstag heute Samstag nur im kleinen Kreis feiern, doch erst vor ein paar Tagen war das Jubiläum der Anlass für eine grosse Vernissage. Im Vereinsmuseum der Mönchengladbacher Borussia wurde eine Ausstellung eröffnet, die den bedeutungsschweren Titel «Aus der Tiefe des Raumes» trägt. Der Maler Markus Lüpertz gab den Laudator; Netzer war eigens angereist aus seinem Zürcher Domizil, bester Laune, angemessen geschmeichelt von der Ehrerbietung.

«Aus der Tiefe des Raumes»: Wer begreifen will, warum dieser Günter Netzer trotz bloss 37 Länderspielen für die gewiss nicht kleine Fussballnation Deutschland zu einer Figur wurde, die stets genannt wird, wenn es um die Allergrössten geht, der wird nicht umhinkommen, sich mit dieser Wendung und ihrer Geschichte zu beschäftigen. Auch Netzer kam darauf zu sprechen an diesem Abend: «Es ist ein toller Satz von ‹FAZ›-Reporter Karl Heinz Bohrer, der mir damit einen grossen Dienst erwiesen hat. Es ist die eine Szene aus dem England-Spiel, wo ich vom Strafraum nach vorne laufe in hohem Tempo.»

Diese Erklärung ist zwar nicht wirklich falsch, richtig aber ist sie allenfalls zur Hälfte. Richtig ist, dass es sich dabei um ein Solo aus dem EM-Viertelfinal 1972 im Londoner Wembley-Stadion handelt, einem Match, in dem die Deutschen ihren Rivalen mit 3:1 besiegten – und in dem Netzer im Zusammenspiel mit Franz Beckenbauer brillierte.

Richtig ist ebenfalls, dass Bohrer Netzer damit den vielleicht grössten Dienst erwiesen hat, den ein Journalist einem Fussballer erweisen kann: Er holte ihn heraus aus der Gewöhnlichkeit des Stadions und führte ihn in eine andere Sphäre. Denn Bohrer war, anders als Netzer glaubt, kein Reporter, erst recht war er kein Fussball-Reporter. Er war ein Geistes-Mensch, der viele Jahre als Kulturkorrespondent der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» aus London berichtete. Dorthin hatte man ihn angeblich auch deshalb entsandt, weil er nach Ansicht seines Nachfolgers Marcel Reich-Ranicki den Literaturteil des Weltblattes «mit dem Rücken zum Publikum redigiert» habe.

«Wembley»

Es ist also eine sonderbare Fügung, die den Heros und seinen Herold zusammenführte. Denn eigentlich hat Karl Heinz Bohrer den legendären Auftritt Netzers vor 100 000 Engländern im Wembley gar nicht miterlebt. 1972, so gestand Bohrer vor einigen Jahren der «taz», habe er den Match bloss am Fernsehen verfolgt, sehr wahrscheinlich in Frankfurt, wo er seinerzeit lebte. Erst ein Jahr später machte sich Bohrer auf den Weg in das von Legenden umwitterte Stadion, um einem englischen Länderspiel beizuwohnen. Es war ein schnöder Qualifikationsmatch gegen Polen, das torlose Remis kostete England die WM-Teilnahme. Bohrer aber, der seinen Essay schlicht «Wembley» taufte, war fasziniert von der Einzigartigkeit des Ortes. Auf der Tribüne kam ihm der Auftritt Netzers in den Sinn, und so schrieb er: «Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstossende Netzer hatte ‹thrill›. ‹Thrill›, das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, ‹thrill›, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende.»

Seit jenen Zeilen sind sie miteinander verbunden, der Fussballer und der Intellektuelle, obschon sie sich nie leibhaftig begegneten. Nichts liess jene Passage in Vergessenheit geraten, die in ihrer Wirkung kaum überschätzt werden kann. Denn mit jenen Zeilen begründete Bohrer ungeplant ein Genre, das in Deutschland einmal Fussball-Feuilleton genannt werden sollte: Texte, geschrieben von Denkern, in denen es um die Dimension des Fussballs abseits der Spielzüge gehen sollte. Ihre Referenz, an der die Fussball-Intellektuellen die später oftmals spröde Gegenwart massen, hiess stets Günter Netzer.

Insofern liegt Netzer vollkommen richtig damit, dass er Bohrer etwas Einzigartiges verdankt. Denn in jenem Masse, in dem das Renommee Bohrers wuchs, in dem er aufstieg zu einem Denker von Rang, der in Stanford lehrte und der mit Jürgen Habermas debattierte, wuchs auch das Ansehen Netzers – und zwar vor allem in jenen Kreisen, die sonst um den Fussball einen grossen Bogen gemacht hatten. Dass Netzer aber in all den Jahrzehnten nie entzaubert wurde, dass er stets die mythische Gestalt vom Niederrhein blieb, zeigt auch: Bohrers Eloge hatte keinen Falschen getroffen. Denn obschon die Karriere Netzers in Zahlen weit weniger eindrücklich ist als diejenige vieler seiner Konkurrenten, hat sein Ruf die Geschichte überdauert. Zwar gewann Netzer mit Borussia Mönchengladbach mehrfach die Meisterschaft und den DFB-Cup. Auch war er, nachdem er 1973 nach Spanien gewechselt hatte, mit Real Madrid erfolgreich; einzig bei GC blieb er zum Karriereende titellos.

Günter Netzer bei seinem ersten Training mit Real Madrid am 16. Juli 1973. (Keystone / AP Photo)

Günter Netzer bei seinem ersten Training mit Real Madrid am 16. Juli 1973. (Keystone / AP Photo)

Doch Netzer ist nicht zu begreifen ohne die Operettenhaftigkeit seiner Pose, die den gesamten Auftritt einzigartig machte. Da war das Ritual, mit dem er sich bei Standards den Ball zurechtlegte, bei dem er in die Knie ging und die Grashalme zur Seite beugte. Da war die Art und Weise, wie er anlief. Da gab es den Effet, den er seinen Freistössen verlieh. Und natürlich jene Pässe, die den «Geist der Utopie» atmeten, wie es sein Biograf Helmut Böttiger – auch er wie Bohrer von Hause aus Literaturwissenschafter – salbungsvoll ausdrückte. Dass Netzer dabei auch Gegenstand kurioser Projektionen war, zeigt ein Blick in die Biografie: Netzer, so schrieb Böttiger, habe charakteristische halblange Haare und «einen halb geöffneten Mund. Der lädt förmlich dazu ein, das man ihm Kippen hineinsteckt.»

Retrospektiv mag es vielleicht naheliegen, Netzer als ein Symbol des Zeitgeistes der siebziger Jahre zu begreifen, die den Weg zu einer Liberalisierung der Bundesrepublik ebneten. Zwingend aber war es nicht. Zwar sei ihm die Idee, Netzer als «links» zu begreifen, nicht unsympathisch, erklärte Karl Heinz Bohrer. Aber er hätte doch seine Mühe gehabt, in Netzer mehr zu sehen als einen Athleten, der einen ästhetischen Anspruch einlöst.

Günter Netzer und Paul Breitner (l.) am 22. August 1974 in Madrid (Keystone / AP Photo)

Günter Netzer und Paul Breitner (l.) am 22. August 1974 in Madrid (Keystone / AP Photo)

Womöglich wusste auch Netzer schon damals um die Tücken einer solchen Überhöhung. Sein Anteil an dieser Rezeption bestand aus Machen und Schweigen, aber nicht aus Reden. Den Rest erledigten die ergebenen Chronisten. Material hatte sie ja. Reichlich umschwärmt war der Fussballer Netzer nicht nur in Mönchengladbach. Er war Besitzer einer Diskothek mit dem Name «Lover’s Lane» in der Altstadt. Er fuhr Ferrari und Jaguar – und amüsierte sich darüber, dass Franz Beckenbauer mit einem Jaguar E-Type, den Netzer ihm für 10 000 Mark weitergereicht hatte, überhaupt nicht zurechtkam. Hedonismus statt Biederkeit.

Und da war natürlich dieser letzte Auftritt für die Borussia vor seinem Wechsel zu Real. 1973 ging es im Cup-Final gegen Köln, als Netzer, ausser Form und zu Beginn des Spiels auf der Ersatzbank, sich weigerte, der Anweisung von Trainer Hennes Weisweiler zu folgen und nach der Pause aufs Feld zu gehen. Erst als ein Mitspieler konditionell einbrach, zeigte sich Netzer gnädig. Aus der ersten Ballberührung resultierte ein Doppelpass mit Rainer Bonhof, Netzer kickte den Ball in den Torwinkel zum Siegtreffer. Was aus der Distanz wie ein meisterlicher Dreh des Schicksals wirkte, sei in Wahrheit ein Unfall gewesen, sagte Netzer: Er habe den Ball «gar nicht richtig getroffen».

Als Spieler konnten sich sowohl Franz Beckenbauer als auch Johan Cruyff und Wolfgang Overath mit ihm messen. Während die Konkurrenten sich durch Konstanz auszeichneten, galt Netzer stets als Mann des grossen Auftritts. Als er 1974 zur Weltmeisterschaft anreiste, hatte er seine Position als Spielmacher längst wieder an den Kölner Overath verloren. Netzer spielte ein paar klägliche Minuten, eingewechselt beim 0:1 gegen die DDR. In der Vorbereitung auf den Final kam ihm die mehr oder minder ehrenvolle Aufgabe zu, den Star des Turniers, Johan Cruyff, als Gegenspieler für Berti Vogts zu imitieren. Vogts, der im Endspiel mit Cruyff relativ wenig Mühe hatte, kam sich wie ein Brummkreisel vor. Rückblickend wunderte sich der englische Autor David Winner: «Wenn die Deutschen in der Woche vor dem Final einen Spieler im Aufgebot hatten, der so gut oder besser als der beste Spieler der Welt war, warum stand er nicht im Aufgebot?»

30 Jahre nach dem WM-Titel von 1974 posieren die damaligen deutschen Nationalspieler mit ihren Trikots. (Bild: Armin Weigel / Keystone)

30 Jahre nach dem WM-Titel von 1974 posieren die damaligen deutschen Nationalspieler mit ihren Trikots. (Bild: Armin Weigel / Keystone)

Zweite Karriere als Manager

Nur zwei Turniere hat Günter Netzer gespielt – lächerlich wenig für einen Spieler seines Formats. Dabei zählt es zweifellos zu den Qualitäten Netzers, nicht mit Vergangenem zu hadern. Warum auch? Es ist ja eine leinwandtaugliche Vita, und sicher hätte kein anderer als Gérard Depardieu ihn zu Glanzzeiten verkörpern können, zudem gelang die zweite Karriere im Fussball mühelos: Als Manager des HSV initiierte er die bis heute erfolgreichste Zeit des einstigen Grossklubs samt einem Sieg im Europacup der Landesmeister.

Vom Fussball liess der Wahlzürcher weder als TV-Rechte-Händler noch als analytisch brillanter Experte ab – eine Tätigkeit, die ihn an der Seite des Journalisten Gerhard Delling zurück ins deutsche Fernsehen brachte: Die Kombination von Sachkenntnis und Selbstironie zählt zu den raren TV-Glücksmomenten im Fussball – auch, weil der Kritiker Netzer stets jene ästhetischen Massstäbe an das Spiel anlegte, die einst sein Exeget Karl Heinz Bohrer seinem Auftritt attestierte. Um den Nutzen des Urteils weiss Netzer nur allzu gut – erst recht jetzt, wo er zurückblickt auf eine Karriere, wie sie nie wieder möglich sein wird.

Günter Netzer wird im April 2006 im Hinblick auf die WM 2006 als TV-Experte von ARD und ZDF vorgestellt. (Bild: Joerg Sarbach / AP Photo)

Günter Netzer wird im April 2006 im Hinblick auf die WM 2006 als TV-Experte von ARD und ZDF vorgestellt. (Bild: Joerg Sarbach / AP Photo)